Autobiographische Streiflichter

Die Eltern

Meine Eltern haben wohl eine ziemlich große Rolle gespielt wie bei jedem Menschen und speziell mit Bezug auf das, was ich geschrieben habe. Ich wurde geboren als einziges Kind – was schon ganz schlimm ist – von zwei sehr neurotischen Eltern, überängstlichen Eltern aus einer sehr orthodox jüdischen Familie auf beiden Seiten mit Tradition von Rabbinern. (1977i)

Die prägende Tradition

Mein Urgroßvater war ein berühmter jüdischer Gelehrter. Er hatte – wie das damals üblich war – einen kleinen Laden gehabt, um etwas für seinen Lebensunterhalt zu verdienen. In diesem saß er und studierte den Talmud. Von ihm erzählte man, dass er, wenn ein Kunde in den Laden kam, etwas ärgerlich sagte: „Gibt es hier gar keinen anderen Laden wie den meinen? Sie sehen doch, ich bin beschäftigt!“. Das war eigentlich die Welt, in der ich mich zu Hause fühlte. Ich bin zwar in der modernen Welt ganz aufgewachsen und in die Schule gegangen und so weiter, aber ich bin in dieser modernen Welt nie zu Hause gewesen. (1980e)

Das Lebensgefühl

Mein Lebensgefühl war das eines vor-modernen Menschen. Das wurde auch dadurch gefördert, dass ich Talmud studierte, reichlich die Bibel las und viele Geschichten von meinen Vorfahren hörte, die alle in einer Welt gelebt haben, die vor dem Bürgertum existierte. – Ich bin nach wie vor ein Fremder in der Geschäftskultur oder in der bürgerlichen Kultur in diesem Sinne, und das ist eine wichtige Quelle auch dafür, dass meine Einstellung zur bürgerlichen Gesellschaft und zum Kapitalismus äußerst kritisch wurde. Ich wurde Sozialist. (1974b)

Alfred Weber

Ich hatte nur einen nicht-jüdischen Lehrer, den ich wirklich verehrte und der mich tief beeinflusste: Alfred Weber, den Bruder von Max Weber. Er war auch Soziologe, aber im Unterschied zu ihm kein Nationalist, sondern ein Humanist, ein ungewöhnlich mutiger und überzeugender Mensch. (Brief an Lewis Mumford)

Salman Baruch Rabinkow

Ich war etwa fünf oder sechs Jahre lang Rabinkows Schüler in Heidelberg und, wenn ich mich recht entsinne, besuchte ihn damals fast jeden Tag. Den Großteil der Zeit verbrachten wir mit dem Studium des Talmud. Ansonsten studierten wir die philosophischen Schriften von Maimonides, das Buch Tanja von Schneur Salman, die Jüdische Geschichte von Weiß und diskutierten soziologische Probleme. Er interessierte sich sehr für meine Doktorarbeit und war mir bei ihrer Anfertigung behilflich. Rabinkow beeinflusste vielleicht mein Leben mehr als jeder andere Mensch. Seine Ideen blieben in mir immer lebendig, wenn auch in anderen Vorstellungen und Begriffen. (1987a)

Sigmund Freud

Freud er hat mir eine neue Welt geöffnet, die Welt des Unbewussten. Er hat mich gelehrt wie so viele Millionen andere, dass das, was wir uns bewusst sind, nur ein kleiner Teil von uns ist. Er unterschied zwischen zwei Arten von Unbewusstem: das so genannte Vorbewusste, also das, was bewusst sein könnte, aber im Augenblick nicht bewusst ist, und das Unbewusste im Sinne des Verdrängten, das von einer Kraft in mir daran gehindert wird, ins Bewusstsein einzudringen. – Außer Freud waren für mich vor allem zwei Psychoanalytiker sehr wichtig, Sándor Ferenczi und ein Mann, der ihm nahestand, aber eine gänzlich andere Persönlichkeit war, Georg Groddeck aus Baden-Baden. (1979d)

Georg Groddeck

Groddeck gehörte zu den Menschen, die ich am meisten im Leben verehrt habe. Ganz im Unterschied zu den meisten Berliner Psychoanalytikern, die viel konstruiert und geredet haben, war er ein Mann von einer ungeheuer direkten Einsicht in das, was er sah. Er war ein enorm begabter Mensch. (1980e) – Von allen Psychoanalytikern, die ich in Deutschland kennen gelernt habe, war meiner Meinung keiner, der so viel Wahrheit, Originalität, Mut und außerordentliche Freundlichkeit besaß wie er. Er durchdrang das Unbewusste seiner Patienten, und doch verletzte er sie nie. … Auch wenn ich nie sein Schüler war, so beeinflussten seine Lehren mich doch mehr als die anderer Lehrer. Er war von solcher Größe, dass die Mehrheit der deutschen Psychoanalytiker unfähig war, ihn wertzuschätzen, und er war ein zu stolzer Mann, um wohlgefällig und populär zu sein. (Brief an Sylvia Grossman)

Johann Jakob Bachofen

Bachofens Entdeckung war für mich ein Schlüssel, nicht nur zum Verständnis der Geschichte, nicht nur zum Verständnis vor allen Dingen unserer patriarchalischen Gesellschaft mit ihrem Prinzip der von Leistung bedingten Liebe, sondern auch zum Verständnis dessen, war für mich mehr und mehr das Zentralproblem in der individuellen Entwicklung geworden ist: Welche Bedeutung hat die Sehnsucht nach der Mutter im Menschen – in der Frau ebenso wie im Mann? Und was ist die Mutterbindung? (1974b)

Karl Marx

Marx ist und bleibt eine der wichtigsten Quellen meiner Einsicht und auch meiner Inspiration. Allerdings ist es sehr schwer heute, über Marx zu sprechen, weil wohl kein Denker so entstellt worden ist wie Marx, und zwar von Leuten, die sich Marxisten nennen, das heißt also vorwiegend von Kommunisten. (1980e) – Mich lockte vor allem die Philosophie von Marx und seine Vision des Sozialismus, die in säkularer Form die Idee von der Selbstwerdung des Menschen ausdrückt, von seiner vollen Humanisierung, von jenem Menschen, für den nicht das Haben, nicht das Tote, nicht das Aufgehäufte, sondern die lebendige Selbstäußerung das Ziel ist. (1974b)

Max Horkheimer und die Frankfurter Schule

In der Traurigkeit, die besonders oft hochkommt, wenn ich so ganz alleine bin wie jetzt hier, ist ein immer wirksames Gegengewicht das beglückende Gefühl einer Gemeinsamkeit, die sich im Laufe gerade dieses letzten Jahres so entwickelt hat, dass ich in allen entscheidenden Fragen der gemeinsamen Linie des Denkens sicher bin. Nun ja, ich freue mich auf Sie und die gemeinsame Arbeit! (Brief an Max Horkheimer 1935) – Seit ein paar Jahren hat Dr. Horkheimer seine Einstellung zu meiner Arbeit geändert. Er beschuldigte mich des Konformismus und dass meine theoretische Arbeit nicht mehr besonders fruchtbar für den Gebrauch der Psychologie in den Sozialwissenschaften sei. Überhaupt äußerte er sich verschiedentlich dahingehend, dass die Psychologie insgesamt nur von geringer Bedeutung für die Sozialwissenschaft sei. Dies steht in krassem Widerspruch zu seiner früheren Einstellung. (Memorandum 1939 für Kurt Rosenfeld)

Das neue Verständnis von Psychoanalyse

Ich versuche zu zeigen, dass die Triebe, die gesellschaftliche Handlungen motivieren, nicht, wie Freud annimmt, Sublimierungen der sexuellen Instinkte sind, sondern Produkte des gesellschaftlichen Prozesses, oder genauer gesagt, Reaktionen auf bestimmte Konstellationen, unter denen der Mensch seine Instinkte befriedigen muss. Diese Triebe … sind grundsätzlich verschieden von den naturalen Faktoren, nämlich den Instinkten Hunger, Durst, Sexualität. Während diese allen Menschen und Tieren gemeinsam sind, sind jene spezifisch menschliche Produkte und nicht biologisch, sondern aus der gesellschaftlichen Lebenspraxis heraus zu verstehen. (Brief an Karl August Wittfogel)

Der neue psychotherapeutische Ansatz

Indem ich mehr und mehr auf das kam, was mir das Entscheidende schien, nämlich auf die Beziehung des Menschen zum anderen, auf die spezifisch menschlichen Leidenschaften, die eben nicht in Instinkten begründet sind, sondern in der Existenz des Menschen als Menschen, da begann ich zu sehen – ja, da konnte ich wirklich verstehen, und der Mensch, den ich analysierte, konnte auch verstehen, was ich sagte; er fühlte: Aha, so ist es! (1974b)

Der andere Wissenschaftler

Ich hatte nie die Fähigkeit und habe sie bis zum heutigen Tage auch nicht erworben, über Dinge zu denken, die ich nicht nacherleben kann: Abstraktes Denken fällt mir schwer. Ich kann nur denken, was sich auf etwas bezieht, was ich gleichzeitig konkret erfahren kann. Wenn das nicht geschieht, habe ich wenig Interesse und wenig Fähigkeit. (1974b)

Liebe

Liebe hat keinen Zweck, obwohl viele Leute sagen: Natürlich hat die einen Zweck! Sie hat den Zweck, entweder zur sexuellen Befriedigung oder zur Heirat zu führen, Kinder zu haben und ein bürgerlich-normales Leben aufzubauen. Das sind die Zwecke der Liebe. Deshalb ist Liebe auch heute sehr selten – die Liebe ohne Zweck, jene Liebe, in der alles, was wichtig ist, der Akt des Liebens selbst ist, wo also das Sein und nicht das Konsumieren die entscheidende Rolle spielt und wo Liebe der Selbstausdruck des Menschen, die Mitteilung seiner eigenen Fähigkeiten ist. (1974b) – Meine schöne Liebe, ich liebe Dich so sehr, dass es schmerzt, aber der Schmerz ist süß und wunderbar. Ich hoffe, Du fühlst es in Deinem Schlaf. (Aus einer der vielen „Botschaften“, die Fromm in den siebziger Jahren seiner noch schlafenden Frau Annis geschrieben hat.)

Politisches Selbstbekenntnis

Ich bin ein demokratischer Sozialist, aber diese Antwort ist heute so vieldeutig, dass sie kaum genügt, um einen Standpunkt zu kennzeichnen. Meine politische Orientierung ist ein sozialistischer Humanismus; mir geht es um eine Gesellschaft, in der die optimale Entwicklung des einzelnen und seiner Freiheit das Ziel der gesellschaftlichen Organisation ist. (1980e)

Engagement für den Frieden

Ich war immer tätig bei allem, was sich gegen die Atomwaffen richtete, und ich war immer in der Friedensbewegung tätig, in der internationalen wie in der amerikanischen. (1980e)

Religion und Religiosität

Unter einem religiösen Leben verstehe ich dasselbe wie die Propheten und Jesus: Gerechtigkeit tun, die Wahrheit sagen, den Mitmenschen lieben. Das ist alles. Die Religion hingegen ist gewöhnlich etwas, was sich die Menschen als Institution hier auf die Seite stellen, gewöhnlich am Sonntag oder auch manchmal zu gewissen Zeiten des Tages, wo sie dann religiös sind. Entweder man lebt religiös oder man lebt es nicht. Man hat keine Religion, wie man einen Besitz hat oder wie man einen Staat hat; dies ist eben der Unterschied zum Säkularen. (1980e)

Glaube und Hoffnung

Solange es Leben gibt, solange glaube ich und habe ich die Hoffnung, dass das Potential, das im Menschen angelegt ist, wieder durchbrechen wird, sich wieder äußern wird. Solcher Glaube hängt davon ab, wie viel jeder bei sich selbst von dieser Hoffnung spürt und miterlebt und sie damit anderen auch in gewisser Weise mitteilen kann. (1980e)

Zitatnachweise

  • 1974b: „Im Namen des Lebens. Interview mit Hans Jürgen Schultz“, in: E. Fromm, Über die Liebe zum Leben, Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt) 1983, S. 110-142.
  • 1977i: „Das Zusichkommen des Menschen. Fernseh-Interview mit Micaela Lämmle und Jürgen Lodemann, in: Basler Magazin, Basel, Nr. 47 (24. 12. 1977), S. 3.
  • 1979d: „Erich Fromm: du Talmud a Freud. Interview mit Gerard Khoury, in: Le Monde Dimanche, Paris (21. 10. 1979), S. XV.
  • 1980e: Il Coraggio di essere. Interview mit Guido Ferrari, Bellinzona (Edizione Casagrande) 1980.
  • 1987a: „Reminiscences of Shlomo Barukh Rabinkow“, hg. von Jacob J. Schacter, in: L. Jung (Hg.), Sages and Saints (The Jewish Library: Vol. X), Hoboken (Ktav Publishing House, Inc.) 1987, S. 99-105.

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